Wie geht Sex? So geht Sex!

Vor 115 Jahren passierte in deutschen Klassenzimmern das Unglaubliche: Es sollte über Sex gesprochen werden. Ganz offiziell. 1900 entschied sich Preußen, Jugendliche in der Schule aufzuklären. Und wie lernt man heute Sex? Von Karsten Tischer

Vertragsunterzeichnung Foto: ari

Sehr sicher, kann aber auch kaputtgehen: Samuel (13) zeigt, wie ein Kondom richtig über den Penis abgerollt wird. Seine Klasse, die 8a der Regelschule Schleusingen, war knapp eine Woche lang im Schullandheim in Schirnrod. Und jeden Tag ging es um Sex. Die Klasse nahm am Aufklärungs-Projekt "Love Island" teil.
"Jungs haben es leichter mit der Sexualität. Sie berühren jeden Tag ihr Geschlechtsteil. Die Mädchen überhaupt nicht." Die Fragen der Mädchen & Jungs beantwortete Ina Gerlof während der Projektwoche.

Vor etwas mehr als 100 Jahren hätte ein Text wie dieser vermutlich nicht geschrieben werden können. Zu unanständig das Thema, zu schmuddelig der Vorgang, um ihn Kindern näherzubringen. Da schwieg man lieber und hoffte auf das Beste. Heute hört sich das ganz anders an, wenn Erwachsene dem Nachwuchs erklären, wie man Nachwuchs macht und wozu Sex sonst noch so alles gut sein kann: Da ist zum Beispiel dieses Bild mit zwei etwas zu dick geratenen Figuren, die verkehrt herum aufeinanderliegen, ihren Kopf zwischen die Beine des anderen geklemmt. Ina Gerlof hat es einer Schülerin in die Hand gedrückt. Sie soll beschreiben, was darauf gerade vor sich geht.

Ina Gerlof ist die Leiterin des Schullandheimes "Am Bleßberg" in Schirnrod - ein Dörfchen in der Nähe von Eisfeld. Sie hat sich wieder das Projekt "Love Island" ins Haus geholt, was nichts anderes ist als ein ziemlich umfangreiches Infopaket der Landesvereinigung für Gesundheitsförderung Thüringen. Kondome, Dildos, Vaginalringe, Portiokappen und Verhütungspflaster - beinahe alles steckt darin und kann begutachtet werden. Die Erklärung übernimmt Ina Gerlof.

Zurück zu den zwei ulkigen Comicfiguren: Noch immer wird überlegt, genau hingeguckt, gedreht und nochmal geschaut. "Die riechen an ihren Geschlechtsteilen", meint das Mädchen, das das Bild hochhält, irgendwann. Der Junge neben ihr fängt an zu lachen.

Noch ist Sex für die 8a der Regelschule Schleusingen kein Thema. Auch wenn die letzte Nacht im Schullandheim eine lange war. Eine Woche wohnten die 18 Jungs und Mädchen zusammen, eine Woche ging es um Sex. Für die Schulen ist das Aufklärungs-Projekt ein zusätzliches Angebot zum klassischen Biologieunterricht. Wenn dort der Lehrer in ein paar Stunden über Sex spricht, heißt das in der Regel: Blick auf die Anatomie der Geschlechtsorgane, Krankheiten, mit denen man sich anstecken kann und wie man genau das verhindert. "Wie Sex auch Spaß machen kann, darum geht es überhaupt nicht", sagt Klassenlehrerin Heike Wege. Im Schullandheim ist das anders.
Bereits vor zwei Jahren war sie mit ihrer Klasse in Schirnrod. Sex interessierte damals noch niemanden. Und heute? Langsam gehe es los, meint Wege. "Sie stellen Fragen." Wenn das hier passiert, muss Heike Wege aber raus. "Sie sprechen lieber mit Frau Gerlof. Sie ist für die Schüler eine anonyme Person. Sie unterliegt einer Schweigepflicht."
Eines der ersten Dinge, die Ina Gerlof mit der Gruppe macht, ist Begriffe sammeln. An der blauen Leinwand hinter dem Stuhlkreis reiht sich Plakat an Plakat, vollgeschrieben mit dem "Sex-Abc". Von A wie Analsex bis Z wie Zwitter. Tabus scheint es keine zu geben - auch nicht bei sexuellen Ausrichtungen. Vieles, meint Gerlof, sei mittlerweile einfach völlig normal geworden. "Schimpfwörter wie 'Schwuler' gibt es zumindest hier nicht mehr. Das war vor fünf Jahren noch anders."
Dass die 48-Jährige heute so offen über das alles sprechen kann, überrascht, denn ihre eigene Aufklärung fand quasi nicht statt. Gerlof wuchs in einem sehr konservativen Elternhaus auf. Sex mit einem Jungen? "Das macht man nicht", sagten die Eltern ihrer Tochter. Die wird prompt mit 18 Mutter. Später kommen noch zwei weitere Kinder hinzu.
Davon sind die Mädchen und Jungs der 8a noch weit entfernt. Nach dem Programm am Vormittag sitzt man in der Mittagspause weiterhin getrennt voneinander an den Tischen. Allzu groß scheint das Interesse am anderen Geschlecht noch nicht zu sein. Was Sex ist, wissen natürlich alle. Das kenne man aus dem Fernsehen und dem Internet, drücke es aber lieber weg, wenn es auf dem Bildschirm aufploppt. "Ich würde jetzt nicht gleich Sex haben wollen", sagt eines der Mädchen. Und wenn, dann müsse es der Richtige sein. Trotzdem kommt die Projektwoche nicht zu früh, sind alle überzeugt. Denn: Zwei Pärchen haben sich schon gefunden.
Und plötzlich kommt ein Junge zum Mädchentisch herüber, nimmt sich von der Seite einen Stuhl. Er setzt sich dazu und fängt an zu erzählen, wie das so ist, eine Beziehung zu haben. Ein paar Stühle weiter hält sich ein Mädchen ihre Hand vors Gesicht und wird ein bisschen rot. Sie ist ganz offensichtlich die Freundin, über die er gerade spricht. Seit 12. November sei man ein Paar, erzählt der Junge. Über Sex haben beide noch nicht miteinander gesprochen - auch nicht nach den Projekttagen in Schirnrod. Auf die Frage, warum er überhaupt mit einem Mädchen zusammen ist, antwortet er: "Das ist schwer auszudrücken. Aber ich würde von Liebe sprechen." Das habe sich einfach so ergeben.

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